O.S. Reuter, Der Himmel über den Germanen, Teil 3

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III. Die Zeitrechnung

Wie die Bestimmung des Ortes und der Richtung ist auch die Zeitteilung ein Kind des Himmels. Kalender und Zeitzeichen gehen heute wie zu allen Zeiten auf die Beobachtung des Himmels zurück.

Die kurze Frist eines Monats gewährt der Mond auf zweierlei Weise: durch seinen wahren Umlauf von Stern zu Stern in 27–28 Tagen und durch den Umlauf seiner Gestalten (von Neu- zu Neu-, von Voll- zu Vollmond) in 29–30 Tagen. Unsere heutigen julianischen Monate haben nichts mit dem Monde zu tun; sie sind Teilungen des Sonnenjahres.

Die Jahresfrist (welche die Dauer des Erdumlaufs um die Sonne darstellt) kann nach den Sternen oder der Sonne bestimmt werden. Das Sternjahr rechnet vom ersten Sichtbarwerden (Frühaufgang) des Zeitgestirns (etwa der Plejaden) am östlichen Nachthimmel vor Aufgang der Sonne. Die Beobachtung wird durch den Dunst und die Überhöhungen des Himmelsrandes leicht ungenau; auch ist die Zeit des Auftauchens des Zeitgestirns von der polhöhe des Ortes abhängig. Zuverlässigere Bestimmung bietet die Wanderung der Auf- und Untergangsörter der Sonne auf dem Himmelsrand, die mit den Jahreszeiten zusammenfällt. Das heutige Jahr rechnet von Frühling zu Frühling, vom Übergang der Sonne in den Nordbereich des Weltgleichers bis zum nächsten (Gleichenjahr); die germanische Jahresfrist zählte, wie wir sehen werden, von Wende zu Wende.

Die älteren Einwürfe gegen die Ursprünglichkeit eines Sonnenjahrs bei den germanischen Völkern, dessen Länge sie auf eine bestimmte Zahl von Tagen nicht hätten ausrechnen können, ließen außer acht, daß der Himmel den nördlichen Völkern andere Erscheinungen gewährt als dem Mittelmeergebiet, von dem sie ihre Zeitrechnung empfangen haben sollen. Die große Schwierigkeit der Bestimmung des Sonnwendtages in Griechenland beklagte noch um 150 v. u. Z. dessen bedeutendster Astronom Hipparch; nach griechischer Rede verweilt die Sonne rund 40 Tage in ihrem Sonnwendstand. In den nördlichen Breiten aber, bei so viel flacherer Bahn, verkürzt sich dieser Zeitraum bis auf wenige Tage und erleichtert somit die Bestimmung des mittelsten Tages der Wendezeit außerordentlich. Wir haben den einfachen Fischer Oddi Helgason in Nordisland die Wendentage genau beobachten sehen. Es ist auch anzunehmen, daß Oddis Verfahren und seine Rechnung mit 365 Tagen auf Norwegen, dem er wahrscheinlich entstammte, zurückführt. Die schriftlichen Überlieferungen lassen zudem erkennen, daß die Sonnwende im alten Norden allgemein als ein bestimmter Tag angesehen wurde, der die Zeitrechnung, so auch die Hegung des Althings regelte. Bekanntlich hielt das abendländische Mittelalter bis zum Eindringen der griechisch-arabischen Himmelskunde an den Jahrpunkten Cäsars bzw. denen des Nikänischen Konzils fest; Weihnachten lag dem Mittelalter auf dem {597} 25. Dezember, der Jahrpunkt auf dem 21. Dezember a. St., während auf Island der kürzeste Tage lange vor Einführung der kirchlichen Zeitrechnung richtig auf Mitte Dezember a. St. gesehen wurde.

Wo ferner die Völker bestrebt waren, ihre hohen, auf Neu- oder Vollmond liegenden Feste stets in gleicher Witterungszeit, im Frühling, Herbst oder Winter zu feiern, mußten sie die Anzahl der Mondumläufe mit dem Sonnenjahr ausgleichen. Hiermit begannen die Schaltversuche, die zum Gebundenen Mondjahr führten. Auch diese Zeitrechnungsart ist, wie schon eingangs erwähnt, als selbständige Erwerbung den Germanen bis in unsere Tage abgesprochen worden.

Das abendländische Mittelalter, d. h. die alte Kirche hatte ihr julianisches Sonnenjahr von den Römern, ihr gebundenes Mondjahr (das sie neben dem Sonnenjahr für die Osternbestimmung gebrauchte) nebst dessen Neunzehnjahresregel von den Griechen entlehnt. Nach den Schöpfungsliedern der Edda sind Sonne und Mond wie die Sterne von den Himmlischen mit geregelten Bahnen begabt, um die Zeiten zu teilen, und die Meinung dieser Lieder ist also, daß die germanische Zeitrechnung nicht von den Römern und Griechen, sondern vom Himmel und seiner himmlischen Ordnung selbst abgenommen worden sei, d. h. auf Beobachtung beruhe.

Wir haben die geschichtlichen uns noch zugänglichen Quellen zu befragen. Diese sind zum Teil älter als alle eddischen Lieder, wenn auch der Stoff dieser Lieder in jene Zeiten zurückreichen mag, in denen schon die ältesten jener geschichtlich greifbaren Quellen entspringen. Wir werden sehen, daß, während die Zeitrechnung des Mittelalters auf Entlehnung beruhte und diese Naturabgekehrtheit mit völliger Entwicklungsunfähigkeit und mit einem bis zum Aberwitz gesteigerten Regelzwang bezahlen mußte, die gleichzeitige und ältere germanische Zeitrechnung ihre mannigfachen Entfaltungen selbständiger Beobachtung des Himmels verdankte.

Das Sternjahr.

Das Sternjahr.

Als Zeitgestirn, das den Beginn des Sternjahrs darstellen soll, ist am häufigsten die Plejadengruppe gebraucht worden. Diese hat außer der späten Bezeichnung „Siebengestirn“ im Germanischen möglicherweise den Namen „Ebergedränge“ getragen. Der Voraustritt des dem Himmelsgotte geheiligten Tieres, des Jul- und Schwurebers, nach dem auch die keilförmige Schlachtordnung Odins [13], die Vortruppsordnung und erste Spitze bezeichnet wurde, könnte sehr wohl zu einem Jahresbeginne passen. Wenn im Mittelalter gesagt wird, daß der Kuckuck so lange schweige, als die Plejaden unsichtbar seien, so spielt der Begriff der Unsichtbarkeit des Siebengestirns eben auf jenes alljährliche erste Wiederauftauchen des Zeitgestirns in der Nachtfrühe vor Aufgang der Sonne an. Auch die Bezeichnung „Glucke mit den 12 (statt 7) Küchlein“ scheint diesen Jahresbeginn zu bezeichnen.

Als ein Jahresgestirn wird auch das Orionsternbild durch seine germanischen Bezeichnungen „Der Rechen, Die drei Mäher, Der Pflug, Friggas Rocken“ ausgewiesen. Mit seinem Frühaufgang verkündete das herrliche Bild {598} alljährlich dem Landmann den Beginn der Mahd, der Pflüge-, im Norden der Flachszeit.

Ein Nachweis des Sternjahres in der Zeitrechnung ist bei den Germanen nicht zu erbringen. Man muß annehmen, daß sein Gebrauch schon in vorgeschichtlicher Zeit vor den höheren Zeitrechnungsformen, dem Sonnen- und dem Mondjahr zurückgetreten ist.

1. Das altnorwegische Sonnenjahr.

Etwa 350 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung erfragte und erfuhr Pytheas (siehe Abschnitt II, 9) von den Norwegern in Drontheim die Unter- und Aufgangsörter der Sonne am längsten Tage, auch deren Lageunterschied in höherer oder geringerer Breite, und zwar zu einer Zeit, als die Sonne selbst nicht sichtbar war. Der Sonnwendstand der Sonne gehörte zu ihrem himmelskundlichen Wissensbestande. An der gleichen norwegischen Küste, aber jenseits des Polarkreises, wird rund 900 Jahre später die Wiederkehr der Sonne aus der 40tägigen Polarnacht „der Sitte gemäß“ beobachtet. Auch diese Nachricht, von Prokop um 550 ausgezeichnet, stammt unmittelbar von den Norwegern selbst. Da nach diesem Bericht alljährlich die letzten fünf Tage (des 365tägigen Jahres) vor dem Wiedererscheinen der Sonne als höchstes Fest des Jahres begangen werden sollten, so mußten, damit jene fünftägige Festzeit nicht verfehlt wurde, alljährlich die Tage des Jahres vom 1. bis zum 360. sorgfältig durchgezählt werden. Die Zählung der fünf Tage beweist die Zählung der 360 Tage. Aus dem schon oben mitgeteilten Berichte ersehen wir sogar, wie wichtig ihnen diese Zählung der Tage war und daß sie in der Polarnacht, das ist während der ersten 35 Tage der Sonnenunterläufigkeit zur richtigen Begrenzung der Tage die Südübergänge des Mondes und der Sterne zu Hilfe nahmen. Es handelt sich mithin um eine Zeitrechnung und zwar um ein auf Beobachtung beruhendes Sonnenjahr von (365 −5 =) 360 Tagen. (Vgl. Abb. 9.)

Ein grundsätzlich gleiches Sonnenjahr von 360 Tagen tritt uns wieder einige Jahrhunderte später auf dem von den Norwegern soeben besiedelten, noch heidnischen Island entgegen. Man rechnet es dort zu 12 dreißignächtigen Monaten und (nach isländischem, aus dem Bestreben nach einer reinen Wochenrechnung in der unruhigen Besiedelungszeit entstandenen Fehler nicht zu fünf, sondern) zu vier Überschußtagen. Da diese Zeitrechnungsform wie die norwegische ganz unkirchlich ist und vom gleichzeitigen Mittelalter nicht in den Norden gebracht, auch auf Island nicht erst erfunden sein kann, so ist diese isländische Jahrform wahrscheinlich nur eine Verderbung der altnorwegischen und von Norwegen eingeführt, und wir dürfen rückwärts schließen, daß auch jenes norwegische Sonnenjahr von 360 Tagen zu 12 dreißignächtigen „Monaten“ gerechnet worden ist. Da man den Jahresbeginn durch Beobachtung alljährlich feststellte, bedurfte man keiner Schaltung. Die fünf Resttage, in denen das höchste Jahresfest gefeiert wurde, wurden von der Zeitrechnung nach immer Monaten übersprungen (isl. hlaupa, d. i. überspringen); das neue Jahr begann wieder mit dem ersten Tage des ersten der 12 Monate. {599} Dieses Überspringen an Stelle des Schaltens scheint auf ein hohes Alter zurückzublicken.

2. Das Dreizehnmonatsjahr.

Im gesamten germanischen Gebiete, getrennt von West- und Südeuropa, wird anscheinend in sehr früher Zeit, vielleicht schon vor Übernahme der römischen Wochentagsnamen im 4. Jahrhundert, ein Jahr von 13 Monaten zu 28 Tagen gebraucht, das sich weder in der römischen, noch in der mittelalterlich-christlichen Zeitrechnung findet. Die durchlaufende Siebenerwoche, die im eurasischen Gebiete Wahrscheinlich älter als in Rom war, bezeichnte schon um 600 das allemannische Recht als „alte Gewohnheit“. Das bekannte Wanderrätsel vom Jahrbaum zählt überall 12 Monatsäste auf, nur in den germanischen und den von ihnen beeinflußten finnischen Randgebieten hat der Jahrbaum 13 Monatsäste:

„Ein Baum hat dreizehn Äst
und jeglicher Ast hat vier Nester
und in jeglichem Nest sieben Jungen“–

oder:

„Ich weiß einen Baum
hoch auf dem Gebirg
mit dreizehn Ästen,
vier zweige auf jedem Ast“ usw.–

oder auf den Färöern:

„Ich weiß einen Baum
zuhöchst auf dem Berge
mit dreizehn Ästen.“

Wie tief eingewurzelt diese Jahrform war, erkennt man daran, daß in Deutschland noch Albrecht Dürer (in einem Briefe vom Jahre 1508 an Jak. Heller) das Jahr zu 13 Monaten zählt, das amtliche Norwegen noch im 17. Jahrhundert [14]. Die Bezeichnung „Dreizehntetag“ (statt Zwölftetag) für den kirchlichen 6. Januar als Lostag für die 13 (nicht 12) Monate hängt hiermit zusammen.

Sicher ist, daß Germanien mit der Übernahme der römischen Götter- und Planetennamen in die Wochentagsbezeichnungen nicht zugleich auch die römische, das ist julianische Zwölfmonatsrechnung übernommen hat; deren Einführung blieb der kirchlichen Einwirkung vorbehalten und die 12 Monatsnamen Karls des Franken müssen in diesem Sinne verstanden werden.

Das Dreizehnmonatsjahr auf Island.

Diese Jahrform wurde in der Gestalt von 52 Siebenerwochen um 870 neben der altnorwegischen Sonnenjahrsrechnung (von 12 dreißignächtigen Monaten und fünf Resttagen) auch auf Island eingeführt. Man wollte aber, daß nicht nur jede Woche, sondern auch jeder der 13 Monate und jedes Jahr {600} mit demselben Wochentage (Donnerstag) begannen. Da die 52 Wochen aber nur 364 Tage ausmachten, mußte der 365. übersprungen werden, wie jene norwegischen fünf Resttage übersprungen wurden. Im eurasischen Gebiete ist diese Überspringung des 365. Tages üblich gewesen; sie muß auch im skandinavischen Gebiete bestanden haben, da Norwegen die 365 Tage des Sonnenjahres, wie wir gesehen haben, sehr wohl kannte. Aber in der Unruhe der Besiedelungszeit vergaßen die Isländer diesen Überspringtag, so daß sehr bald ihr Kalender sich gegen die Jahreszeit fühlbar und sichtbar verfrühte.

Dies aber bemerkten die heidnischen Isländer selbst sehr bald am Gange der Sonne und es war Thorstein Surt in Westisland, der um 950 den Isländern empfahl, zunächst alle sieben Jahre, dann bei genauerer Erfassung der Jahreslänge in kürzeren Fristen jedesmal eine volle Woche einzuschalten. Es handelte sich bei Thorsteins Wochenschaltung nicht um einen Ausgleich mit dem julianischen Jahre, sondern mit dem Sonnenstand selbst. Die in der Geschichte der Zeitrechnung einmalige Jahresform, inzwischen gegen das julianische verbesserte Jahr geschaltet, besteht auf Island bis in unsere Zeit.

Die Abhängigkeit des Jahresbeginns (des ersten Sommertages) vom Sonnenstand geht nochmals aus einer heidnischen Althingsbestimmung vom Jahre 999 hervor, nach welcher der erste Sommertag alljährlich zehn Wochen vor dem Althing liegen solle. In kirchlicher Zeit wurde diese Frist beibehalten, als man in julianischem Ausdruck das gesetzgebende Thing auf den 24. Juni, den ersten Sommertag aber zehn Wochen früher, auf den 14. April legte. Für den vorkirchlichen Sommerbeginn ergibt sich hieraus der Abend, an dem der Sonnenoberrand im Westnordwestpunkt verschwand, wie nach anderer Nachricht der Winterbeginn vom Untergang der Sonne in dem Westsüdwestpunkte, der „Eyktstätt“, gerechnet wurde (Vgl. Abb. 2 im Juniheft.)

Der junge Freistaat Island beginnt seine Zeitrechnung mit zwei Formen des Sonnenjahres. Vom Monde ist keine Rede mehr.

3. Das angelsächsische und altsächsische Mondjahr.

Vorbemerkung. In den einmaligen Jahreslauf der Sonne von 365 bis 366 Tagen fallen 12 Mondumläufe von 29½ Tagen, d. s. insgesamt 354 bis 355 Tage. Das Sonnenjahr beginnt stets mit dem gleichen Jahrestage. Beginnen (was immer nur nach längeren Fristen vorkommt) Sonnen- und Mondjahr am selben Tage, so fallen in das 1. Sonnenjahr nicht nur 12 Mondumläufe, sondern auch noch 11 bis 12 Tage des 13ten. Dieser reicht außerdem noch 19 bis 20 Tage in das 2. Sonnenjahr hinein. Das 1. Mondjahr hat mithin 13 Mondumläufe und das 2. Mondjahr beginnt 19 bis 20 Tage nach dem Beginn des 2. Sonnenjahrs. Da das Mondjahr aber in jedem Jahre dem Beginn des Sonnenjahrs möglichst nahe beginnen soll, kann der Beginn des 3. Mondjahrs wieder um 11 bis 12 Tage zurückfallen, ohne den Sonnenjahrsbeginn zu unterschreiten. Das 2. Mondjahr hat also nur 12 Monate; es ist ein gewöhnliches Mondjahr im Gegensatz zum Mondschaltjahr von 13 Mondumläufen. Ein derart den Ausgleich mit dem Sonnenjahre erstrebendes Mondjahr pflegt man (in Unterscheidung vom freien, alle Jahreszeiten durchlaufenden) ein gebundenes Mondjahr zu nennen [15].

{601} Im Jahre 725 berichtet der angelsächsische Kirchengeschichtsschreiber Beda [16] über die Zeitrechnung seiner heidnischen Vorfahren, die aus Germanien in Britannien eingewandert seien: Diese hätten ihr Jahr nach dem Monde gerechnet und von Zeit zu Zeit einen 13. Mondumlauf eingefügt. Man habe dieses Schaltjahr Thrilidus genannt, weil man den beiden Monaten Lida im Sommerhalbjahr den dritten mit gleichem Namen angeschlossen habe.

Das Sonnenjahr begann ihnen mit der „Wendung der Sonne zur Mehrung des Tages“, d. h. mit der längsten Nacht, die sie „Mütternacht“ nannten [17]. Das Mondjahr teilten sie in eine Winter- und Sommerhälfte und begannen das Winterhalbjahr mit dem Vollmond Vintirfyllith (Wintervollmond), der etwa dem julianischen Oktober entsprach. Wie zwei Sommermonde mit dem gleichen Namen Lida (d. h. der milde oder Fahrmonat) hatten sie im Winter zwei Julmonde. Auf dem Vollmond, der den ersten Julmondumlauf endete und den zweiten begann, feierten sie ihr Julfest, weil es die ständige genaue Mitte des Winterhalbjahrs war, auch „Mittwinter“ genannt. Gegen das Sonnenjahr war das Fest mit dem Vollmond beweglich; aber immer lag es aus dem ersten Vollmond nach dem kürzesten Tage, der Mütternacht, im 7. Jahrhundert auf dem 18. Dezember a. St. (nicht auf dem 25., wie Beda irrtümlich angibt).

Drei Vollmondumläufe nach Jul, mit dem vierten Vollmond nach dem kürzesten Tage, begann das Sommerhalbjahr, in dessen Mitte der dritte Lidamond des Schaltjahrs eingefügt wurde. Die Schaltregel selbst ist uns von Beda nicht überliefert; wir erfahren aber eine Schaltregel im Nordgermanischen, die sehr wahrscheinlich auf ältere germanische Zeit zurückgeht (siehe unten).

Das geschilderte gebundene Mondjahr führt Beda auf die eingewanderten germanischen Stämme, also auch auf Altsachsen zurück. Die von ihm genannten Oster- und Retmonat sind auch in Deutschland nachgewiesen; Julmond ist dem ganzen germanischen Norden geläufig; zwei Julmonate hintereinander (und ihr Julfest wahrscheinlich auf Vollmond) hatten auch die Goten. Der Monat Thrimilki, den Beda dem Mai zuweist, in dem die Kühe täglich dreimal gemolken werden konnten („bei der Fruchtbarkeit Britanniens oder Germaniens“) ist in Deutschland nicht mehr nachzuweisen, sein Name aber noch heute in Schweden und Norwegen im Gebrauch.

Wir dürfen schließen, daß diese Form des gebundenen Mondjahrs schon vor der Abwanderung jener Angeln und Sachsen, also in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung in den germanischen Stammsitzen herrschend gewesen ist. Sie begegnet in dieser Zeit schon den Nachrichten des Cäsar und des Tacitus (siehe unten).

4. Das altfäröische Mondjahr.

Vorbemerkung. Die etwa 25 kleinen „Schafinseln“ (Fär-Öer) im Atlantischen Weltmeer sind im 9. Jahrhundert von Norwegen aus germanisch besiedelt worden. In der Abgeschlossenheit dieser in ihrem Lebensunterhalt ganz auf den Fischfang angewiesenen (heute an 27000) Färinger hat sich in älterer Zeit eine Form des gebundenen Mondjahrs herausgebildet, die auf der Erde einmalig ist.

{602} Die Färinger nannten den Mond, der als Wintervollmond auf dieser NBr. 62° im Durchschnitt 17 bis 18 Stunden am Himmel kreist, Nachtsonne, die Monate selbst Sonnen, das Neulicht „Sonnenkommen“; den Vollmond (da mit ihm das Schwinden des Rundes beginnt) „Sonnenwende“, auch „Vollsonne“. Gleich allen germanischen Stämmen unterschieden sie Winter und Sommer als Hälften ihres Mondjahrs, das sie wie die Angeln und Sachsen und, wie wir sehen werden, wie die Norweger an den kürzesten Tag banden.

Da von dem rechtzeitigen Beginn der Fangzeit (die Fischwanderung traf alljährlich mit Regelmäßigkeit zur selben Zeit ein) die Nahrung der Inselbewohner abhängig war, konnten sie die alte mitgebrachte Form des Mondjahrs nicht brauchen; die alle zwei bis drei Jahre notwendige Schaltung eines ganzen Mondumlaufs war mit der Gefahr verbunden, den Fischzug in ihrem Hauptfangmond zu versäumen. Statt eines ganzen Mondumlaufs schalteten sie deshalb einen halben und begannen hiernach das eine Jahr mit dem Neumond, das andere mit dem Vollmond.

Nach den Berichten ist „Wintermond“ derjenige, der am „kürzesten Tag“ am Himmel ist; ein regelrechtes Jahr liegt vor, wenn auch der folgende Sommermond („Sommersonne“) den längsten Tag einschließt. Im nächsten Jahr überschreitet der „Sommermond“ den längsten Tag nur, wenn ein entsprechender Zeitraum eingeschaltet worden ist, d. h., wenn der „Wintermond“ seinen Anfang nicht mit dem Neumond, sondern mit dem Vollmond genommen hat. Durch diesen beständigen Wechsel zwischen Neu- und Vollmondjahr erreichte man, daß der Beginn des Hauptfangmonats (einmánasólin) alljährlich nur um wenige Tage schwankte. „Julmond“ ist der Mond, der nach dem kürzesten Tag am Himmel ist.

5. Die Lage des Julfestes. Das nordgermanische Mondjahr und der Achtjahrsschaltkreis.

Vorbemerkung. Die Fragen: Wie man im Beginne eines Mondjahrs wissen könne, daß in seinem Lauf ein dreizehnter Mondumlauf eingeschaltet werden müsse, auf dem wievielten Neu- oder Vollmond das neue Mondjahr, Sommer- oder Winterhalbjahr beginne, wie man diesen Beginn bei bedecktem Himmel bestimmen könne, auf dem wievielten Monde oder Sonnenjahrestage das Hochopfer oder der Landesthing zu besuchen sei, – diese Fragen konnte nur eine feste Schaltregel beantworten, die jedem Bauern in den großen Waldgebieten Schwedens, jedem Hochseeschiffer, jedem Krieger und Feldherrn zugänglich, brauchbar und zuverlässig war.

Das Zurückbleiben eines 12 monatlichen Mondjahrs (Vorbemerkung zu 3.) hinter dem Sonnenjahr beträgt nicht 11, sondern im Durchschnitt 11½ Tage; das Voreilen des 13 monatlichen Schaltmondjahrs nicht 19, sondern 19½ Tage [18]. In der kirchlichen Zeitrechnung, die auf altgriechischer Grundlage Sonnen- und Mondjahr in einem Neunzehnjahrskreise ausgleicht, wird der Unterschied auf 11 und 19 nach unten abgerundet; in der nordgermanischen Mondjahrsschaltung im Achtjahrskreise tritt der kirchlichen Elferregel die Abrundung nach oben auf 12 und 20, die Zwölferregel gegenüber.

Die Lage des heidnischen Julfestes ist nicht unmittelbar überliefert; man weiß nur, daß es im 10. Jahrhundert in Norwegen von seiner heidnischen Lage und zwar vom „Mittwintertag“ auf den julianischen 25. Dezember ver-{603}legt wurde. Anders war es mit dem großen schwedischen „Disenopfer“, einem Landesfest zu Uppsala, das nach Aushebung des Opferdienstes zwar in einen Distingsmarkt umgewandelt wurde, dessen Lage auf dem Vollmond des Distingsmonats jedoch verblieb. Distingsmond war ein wirklicher Mondumlauf und hatte seinen Namen von jenem heidnischen Disenopfer. In kirchlicher Zeit lautet die Regel: Disting liegt auf dem Vollmond des ersten Neumondumlaufs nach Mitternacht des 6. auf den 7. Januar.

Vor dem Distingsmond lief stets der Julmond um den Himmel; noch die heutige norwegische Volksregel bestätigt dies, wenn sie sagt, daß Julmond sei, der am 6. Januar am Himmel sei; danach folge der Distingsmonat. Wie aber dieser seinen Namen vom heidnischen Disenopfer empfangen hat, so kann der Julmond seinen Namen nur vom heidnischen Julfest erhalten haben. Dieses lag auf dem Vollmond jedes Julmonds und war also (wie alle germanischen Opferfeste) im Sonnenjahr nicht fest, sondern beweglich. Die Verlegung des Julfestes der heidnischen Lage auf den kirchlichen 25. Dezember (von Hakon dem Guten beabsichtigt, aber wegen des heidnischen Widerspruchs erst später durchgeführt) war eine Überführung aus dem heidnischen Mondjahr in das julianisch-kirchliche Sonnenjahr. Der Bericht des Snorri Sturluson, daß Jul auf dem heidnischen „Mittwintertage“ gelegen habe, erweist sich als richtig. Es handelt sich um den mittleren Vollmond der sechsmonatlichen Winterhälfte des Mondjahres wie bei den Angelsachsen und Färingern und wahrscheinlich allen germanischen Stämmen.

Der in den Regeln genannte 6. Januar ist nun aber ein kirchliches Datum, das in der heidnischen Zeitrechnung ganz unbekannt war. Welche Zeitlage im heidnischen Mond- und Sonnenjahr dem späteren kirchlichen Datum des 6. Januar entsprochen hat, läßt sich aus den Grundlagen der germanischen „Zwölferregel“ errechnen. Die Kirche stützt ihre Zeitrechnung auf eine „Elferregel“, indem sie nicht mit 12, sondern mit 11 Unterschiedstagen zwischen Mond- und Sonnenjahr rechnete. Der 6. Januar heißt im Germanischen der „Dreizehnte Tag“; mit dem 6. Januar sind volle 12 Tage nach dem 25. Dezember abgelaufen. Es gibt nun eine ostfinnische, aus dem Skandinavischen entlehnte Schaltregel: Schaltjahr ist, d. h., es müssen im kommenden Jahre 13 Monde gezählt werden, wenn der erste Neumond vor den 6. Januar fällt, und als dieses Datum gilt, daß nach dem Merktag, hier dem 25. Dezember, volle 12 Tage verflossen sein müssen. Die finnisch-skandinavische Schaltregel stimmt mit der norwegisch-schwedischen Distingsregel überein. Wir sehen aber, daß der 6. Januar Schaltgrenze nur sein kann, weil, volle 12 Tage (nicht 11) vor ihm, der 25. Dezember, d. h. der erste Jultag Merktag, d. h. Beginn des julianischen Sonnenjahres sein soll. Die beiden Daten sind rein kirchlich, aber die Zeitrechnung hängt mit dem kirchlichen Elferverfahren nicht zusammen, das sich auf die Regeln Metons stützte. Wenn aber einerseits das Verfahren nichtkirchlich ist, wenn andererseits der Disting die heidnische Lage in kirchlicher Zeit beibehalten hat, so bleibt nur übrig anzunehmen, daß in der norwegischen, schwedischen und ostfinnischen Zwölferregel der 6. Januar mit seiner kirchlich-julianischen Fassung den vorkirchlichen Zeitpunkt der Schalt-{604}grenze bewahrt hat. Daß dem so ist, ergibt sich zudem rechnerisch mit voller Sicherheit aus der Zeitbestimmung des altdänischen Hochopfers zu Lethra auf der Insel Seeland, das im Jahre 934 aufgehoben wurde.

Über dieses dänische Landesopfer berichtet nämlich um 1000 Thietmar von Merseburg [19], daß es nach immer acht vollen Jahren mit jedesmal 99 Opferhäuptern gehalten sei und zwar „im Januar nach der Zeit, in der wir (die Kristen) die Taufe des Herrn (6. Januar) feiern“. Thietmar will die heidnische Zeitlage kirchlich-julianisch aussprechen. Wir sehen hierbei den 6. Januar schon in der heidnischen Zeit, die einen solchen Zeitausdruck gar nicht kannte, eine entscheidende Rolle spielen, zwar nicht den Tag selbst, sondern „die Zeit nach dem 6. Januar“. Die Durchrechnung dieser Zeitangabe mit Hilfe der skandinavischen Zwölferregel ergibt, daß sie den Vollmond des ersten nach dem kürzesten Tage jener Zeit (= 25. Dezember a. St.) beginnenden Mondumlaufs trifft, daß also nicht nur die ostfinnische, sondern auch die heidnische dänische Lethraregel um 900 dieselbe ist wie die spätere norwegisch-dänische Julmond- und Distingsmondsregel. Wie das dreitägige heidnische Julfest im Norden auf dem Vollmond des ersten dem kürzesten Tage folgenden Neumonds lag, Disting auf dem Vollmond des zweiten Neumonds, so fiel auch das dänische Landesopfer nach immer acht vollen Jahren auf denselben Julvollmond.

Alle diese hohen Opfer lagen wie bei den Angelsachsen und den Goten auf Vollmond und waren darum „bewegliche“ Feste. Wir verstehen, warum Thietmar die Opferzeit der Dänen nicht geradezu in festen Daten ausspricht; wir müssen aber erkennen, daß er sie als zwischen dem 6. und 31. Januar liegend so genau treffend bezeichnet hat, als es mit den Mitteln des julianischen festen Sonnenjahrs nur immer möglich sein kann, eine bewegliche Zeitlage des an das wahre Sonnenjahr gebundenen Mondjahres auszusprechen.

Das Achtjahr und die Schaltregel.

Das altdänische Landesopfer von Lethra, im 10. Jahrhundert aufgehoben, wurde „nach immer acht vollen Jahren“ auf Jul gehalten. Ihm entspricht in Schweden ein Landesopfer zu Uppsala, das gleichfalls „nach immer acht vollen Jahren“ gefeiert wurde, nicht freilich auf Jul, sondern „um die Frühlingsgleiche“. Die Unbestimmtheit auch dieser Zeitangabe läßt nunmehr mit Sicherheit aus den gleichen Grund schließen: Auch das Hochopfer von Uppsala wurde auf einem Vollmond, in Abhängigkeit vom kürzesten Tage gefeiert.

Beiden Hochopferfristen muß aber, da beide Achtjahrsopfer in Mondjahrsrechnung waren, dieselbe Zeitrechnungsregel zugrunde liegen. Der schwedischen Opferhäupter waren nach dem Berichte Adams von Bremen [20] 72 und zwar fielen an jedem der acht Tage des Hochopfers ausdrücklich je neun Stück, beim Lethraopfer 99 Häupter. Wie den vergangenen acht Jahren jedesmal 99 Mondumläufe gehören, so scheint sich in der Zahl der 99 Opferhäupter nach immer acht Jahren ein Zeitsinnbild zu erhalten; ähnlich besteht das {605} Hochopfer zu Uppsala nach immer acht Jahren aus einem achtmaligen Opfer von je neun Stück und Art. Somit wird das Landesopfer von Uppsala nach derselben Zwölferregel bestimmt worden sein wie das dänische Hochöpfer, wie das heidnische Julfest und der Disting zu Uppsala.

In voller Klarheit wird, wenn auch spät, diese alte Schaltregel, deren Gültigkeit wir schon für das 10. Jahrhundert erwiesen haben, in Uppsala selbst überliefert. Im Jahre 1689 erfährt ein berühmter schwedischer Arzt, Olaf Rudbeck, auf dem Distingsmarkt zu Uppsala selbst von einem grauhaarigen Bauern, den er mit einem Runstab trifft, die Schaltregel für den Distingsvollmond:

Der Mond schreitet 12 und 20 während Aun.

Der letzte Ausdruck scheint die Spanne zu meinen, in der dieses Schreiten des Mondes stattfindet. Die Zahlen 12 und 20 jedoch (statt der kirchlichen 11 und 19) sind gerade diejenigen, die allen unseren Regeln und Berechnungen zugrunde liegen und den zeitrechnerischen Zusammenhang zwischen dem norwegischen Julmond, dem schwedischen Distingmond, dem ostfinnisch-skandinavischen Schaltjahr, dem dänischen sowie dem schwedischen Landesopfer zu Lethra und Uppsala, den wir ermittelt haben, bestätigen.

Hinzu kommt, daß sich in dieser Regel anscheinend bewußt eine Achtjahrsregel ausspricht. Nach einem arithmetischen Gesetze kehrt diese Regel immer nach vollen acht Gliedern auf ihren Ausgang zurück: Gehen wir vom gleichen Beginn des Sonnen- und Mondjahrs aus, so liegt der Mondjahrsbeginn

imJahrIaufTag  1  
 +20  = 13 Monate
II  21  
 −12  = 12
III   9  
 +20  = 13
IV    29  
 −12  = 12
V     17  
 −12  = 12
VI      5  
 +20  = 13
VII       25  
 −12  = 12
VIII        13  
 −12  = 12
I         1 wie oben.

Mit dem neunten Jahre beginnt die Reihe von neuem. Der Gebrauch des Achtjahrs ist geschichtlich durch Lethra und Uppsala bezeugt; aber auch im schwedischen Landschaftsrecht, besonders im schwedischen und dänischen Volkssang bis in die norwegischen alten Thorslieder ist die Achtjahrsbestimmung herrschend, im germanischen Mythus und noch in der frühdeutschen Spielmannsdichtung bezeugt.

{606} Der Ausgleich zwischen acht Sonnen- und acht Mondjahren einschließlich der drei Schaltmonde fehlt am Schlüsse um 1½ Tage, nach weiterem Achtjahr um drei Tage. Man mußte schalten oder die Reihe durch Beobachtung von neuem beginnen. Wahrscheinlich tat man das letztere. Die allgemeine Volksberatung und Verkündung der Zeitrechnung für das bevorstehende Jahr ist uns mit Sicherheit vom heidnischen Althing auf Island bekannt. Im übrigen verfehlte das kirchliche Neunzehnjahr die wahren Monde um das Jahr 1000 schon um zwei, im 17. Jahrhundert um vier Tage; Grund genug für die Bauern, an alten brauchbaren Regeln des Heidentums auch in kirchlicher Zeit Jahrhunderte hindurch festzuhalten.

Die Achtjahrsregel ist keineswegs eine Abart der Neunzehnjahrsregel. Nach dem erwähnten arithmetischen Gesetz kehrt die Elferregel (11 + 19) erst nach 30 Jahren zu ihrem Ausgang zurück; selbst abgesehen von dem eben genannten natürlichen Verschleiß der Regel im Lauf der Jahrhunderte ist die Übereinstimmung zwischen Regel und Mondeintreffen alle Jahre nur durch einen Kunstgriff (Auslassen je eines Tages, den sog. Mondsprung) herzustellen. An der Natur wurde die Regel von der Kirche nicht ausgerichtet. Wie aber das norwegische und isländische Sonnenjahr alljährlich an der Sonne, so genas das Mondjahr immer wieder durch Beobachtung am Monde selbst. Der Distingsmarkt wie die Landesopfer von Lethra und Uppsala sollten und mußten zur Zeit des wirklichen Vollmonds gehalten werden, weil man seines Lichtes bedurfte.

Der altgriechische Achtjahrskreis (die Oktaëteris) hat viele Jahrhunderte hindurch die Zeitrechnung und den Opferdienst Altgriechenlands geregelt; die delphischen wie die Olympiafristen waren (wie Lethra und Uppsala) von ihm und seinen 99 Mondumläufen abhängig. Die Zwölferregel des germanischen Nordens ist jedoch in Griechenland ebensowenig nachweisbar wie im Mittelalter. Der germanische Achtjahrskreis ist germanischen Ursprungs.

6. Das altgermanische Mondjahr.

Das gebundene Mondjahr reicht im Germanischen wahrscheinlich in sehr frühe Zeiten zurück. In den großen Kämpfen der germanischen Swebenstämme mit den Römern im Elsaß um 58 vor unserer Zeitr. wurde – nach Cäsars und anderer Bericht – dem germanischen Heerführer Ariovist vom Glaubensbrauch die Pflicht auferlegt, die Schlacht nicht vor dem Neumond zu beginnen. Angesichts der entscheidenden Bedeutung dieses bevorstehenden Kampfes und angesichts des Gesetzes, das er nicht um Haaresbreite verfehlen durfte, muß Ariovist in der Lage gewesen sein, den wahren Eintritt des Neumonds (welcher unsichtbar zu sein pflegt) auch bei wochenlang bedecktem Himmel zu bestimmen.

Dies war nur durch Berechnung möglich, die erprobt war. Ausdrücklich von einer solchen Berechnung berichtet etwa 150 Jahre später Tacitus, daß nämlich die Germanen die Zahl der Tage „berechnen“, um an ihnen ihre Versammlungen zu halten oder bedeutende Unternehmungen zu beginnen. Sowohl nach Cäsars wie des Tacitus Bericht müssen die beiden „Tiden“, {607} Vollmond und Neumond, den Germanen um den Beginn unserer Zeitrechnung Bestandteile einer festen Zeitrechnung gewesen sein, und zwar eines gebundenen Mondjahrs. Denn auch die ältesten Hochopfer dieser Westgermanen – beispielsweise das Herbstfest der Tamfana [21] in Westfalen – wurden in bestimmten Jahreszeiten, zugleich aber auf Neu- oder Vollmond gehalten. Die älteste uns bekannte germanische Zeitrechnung baute sich auf den Ausgleich des Mondjahrs mit der Sonnenbewegung auf; das aber ist das Kennzeichen des gebundenen Mondjahrs, das nur wenige Jahrhunderte später im altsächsisch-angelsächsischen Bereich sich voll ausgebildet zeigt.

7. Übersicht über die germanische Zeitrechnung.

Wurde von der Forschung bisher eine selbständige Beobachtung und Nutzung des Sonnen- und des gebundenen Mondjahrs bestritten, so erkennen wir nunmehr, daß die heidnischen Germanen sogar beide Zeitrechnungsarten in mehrfachen Formen entwickelt haben, und zwar:

  1. Das Sonnenjahr;
  2. Das gebundene Mondjahr in Norwegen, Schweden, Dänemark, auf den Färöern (mit Halbmonatsschaltung), bei den Angeln und Sachsen, wahrscheinlich altgermanisch; geschaltet gegen den kürzesten Tag, den Sonnenstand der Wintersonnwende. Nicht mehr aus Island, das seit 930 auf Thingbeschluß nur noch vom Sonnenjahr Gebrauch macht.
  3. Der Achtjahrkreis als Ausgleich zwischen acht Sonnenjahren und acht Mondjahren, das ist 99 Vollmondumläufen, in Schweden und Dänemark, wahrscheinlich auch altsächsisch.

Die julianische Zeitrechnung wird im Germanischen überall erst durch die mittelalterliche Kirche eingeführt; die germanischen Zeitrechnungen bleiben auch dann noch neben jener durch viele Jahrhunderte hindurch, zum Teil bis in unsere Zeit bestehen [22].

Die germanischen Zeitrechnungen beginnen grundsätzlich mit der Himmelserscheinung selbst; der Ausgleich zwischen Beobachtung und Regel wird auf verschiedenem Wege, sei es durch Überspringen der Resttage, sei es durch Einschalten von Monaten, Halbmonaten oder Wochen hergestellt.

Die Entwicklung aller germanischen Zeitrechnungsarten beruht auf einer überall selbständigen Himmelsbeobachtung.