O.S. Reuter, Der Himmel über den Germanen, Teil 2

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II. Beobachtung und Messung

Anschauung, Auszierung mit Sternbildern, Verehrung des Himmels sind noch nicht Himmelskunde; diese zeigt sich erst in Beobachtung und Messung der Himmelserscheinungen, sei es, daß durch sie ein greifbarer Nutzen (z. B. für die Zeit- oder die Ortsbestimmung) erzielt werden soll, sei es, daß die Ermittelung des Naturgesetzes der Beobachtung und Messung als letztes Ziel vorschwebt. Mit diesem Ziele begibt sich die Himmelsbeobachtung und Himmelsmessung auf den Weg zur Wissenschaft.

1. Die Mitternachtssonne am Nordkap.

(Vgl. Abb. 4)

Im 9. Jahrhundert umfuhr der Norweger Ottar, um zu ermitteln, wie weit das Land nordwärts reiche, das Nordkap. Er gelangte ins Weiße Meer, bis an die Dwinamündung (Archangelsk). In dem uns erhaltenen ausführlichen Fahrtberichte [5] sind die Küstenerstreckungen nach den Himmelsrichtungen so gut bestimmt, daß diese, da der Kompaß nicht bekannt war, durch Beobachtung gewonnen sein müssen. Nun sind in jenen Breiten den Sommer hindurch wegen der beständigen Helle die Sterne nicht sichtbar; die Sonne selbst kreist unablässig über den Himmelsrand. Richtungsmöglichkeit gewährte allein der Höchst- oder Tiefstand der Sonne, über dem Südpunkt oder dem Nordpunkt. Wahrscheinlich ist es, daß Ottars Richtungsbestimmungen die Beobachtung der tiefsten Bahnsenkung der Sonne zugrunde liegt. Der Abstand des scheinbaren Unterrandes der Sonne von der Kimm beträgt um die Sommersonnenwende mitternachts am Nordkap (NBr 71° 11′) etwa 4°.5 {500} (d. i. die halbe Handbreite bei ausgestrecktem Arm); mit Hilfe dieser Beobachtung hat Ottar die Mitte des Nordabschnittes, d. i. den wahren Nord festgestellt. Da der Küstenfahrer bei der Wendung des Landes am Nordkap berichtsgemäß einige Zeit auf „westlichen oder ein wenig nördlichen Wind“ (wahrscheinlich in der geschützten Hornsbucht) gewartet hat, so wird er seine Beobachtung mehrfach wiederholt und das Ergebnis gesichert haben.

2. Mittags- und Mitternachtssonnenhöhen in Nordgrönland.

Am 25. Juli (a. St.) 1267 wurden südgrönländische Fischer von ihrem Heimathafen Gardar durch einen Sturm nordwärts verschlagen. Am Endpunkt ihrer Fahrt stellten sie fest:

  1. die Sonne stand mittags so niedrig, daß ein im Boot querliegender Mann die Sonne gerade über der gegen die Sonne querliegenden Schiffswand peilen konnte;
  2. die Sonne stand mitternachts „so hoch wie im Heimathafen in Nordwest“ (am längsten Tage).

(Zu 1.) Das Verfahren, die Schiffswand oder eine Erhöhung des Reling (Sonnbord) als Schattenwerfer oder bei mattem Lichte als Peilvorrichtung zu benutzen, ist im alten Norden mehrfach bezeugt. Auf südlicherem Schiffsort fiel der Schatten näher, auf nördlicherem ferner. Kerben auf der Schiffsbank konnten den Schattenfall für den Heimathafen und für jeden anderen bekannten Schiffsort festlegen und gestatteten damit die Entfernung in der Nord- oder Südrichtung abzuschätzen.

(Zu 2.) Die Höhe der Mitternachtssonne am fernen Ort wird mit einer bekannten Sonnenhöhe im Heimathafen Gardar (NBr. 61°) verglichen. In Gardar stand die Sonne am längsten Tage in Nordwest 3° 41′ hoch; wenn an jenem fernen Orte, und zwar am 25. Juli (a. St.), die Sonne mitternachts, also im wahren Nord, 3° 41′ hoch stand, so ergibt die Nachrechnung für den Schiffsort eine NBr. von 74° 34′, d. i. einen Küstenpunkt an der Baffinsbay, nördlich von Upernivik.

Etwas südlicher (NBr. 73°), nordwestlich von Upernivik, auf der Insel Kingigtorsuak hat man im Jahre 1824 einen Runenstein gefunden, dessen Sprache ihn der Zeit um 1300 zuweist. Die Fahrt in so hohe Breiten steht mithin nicht allein. Das astronomische Ortsbestimmungsverfahren, so verstümmelt es im Berichte erscheint, beruht auf dem Vergleich der Sonnenhöhen. Der Mitternachtssonnenhöhe konnte aus dem Heimathafen Gardar eine solche nicht gegenübergestellt werden, da dort (NBr. 61°) die Mitternachtssonne nur unterhalb des Nordpunkts läuft. Die Angabe der „Sonnenhöhe in zu Gardar“ ist also ein Auskunftsmittel, das vortrefflich die himmelskundliche Erfahrung und Schulung der Leute beweist.

3. Die Schafthöhe der Sonne.

(Vgl. Abb. 5.)

Die Zeitmarke Eyktstätt (Westsüdwest) war für jedes Gehöft durch eine Landmarke im Himmelsrand fest bestimmt und erkennbar. Auf der Wan-{501}derung dagegen konnte die Himmelsrichtung nicht ohne weiteres gefunden Werden, zumal im Sommer nicht, wenn Monate hindurch die Nachthelligkeit alle Sternsicht verwehrte. Aus vorkirchlicher Zeit stammt ein volkstümliches Verfahren, den Arbeitsschluß oder überhaupt eine bestimmte Zeit statt durch eine Richtung des Sonnenstandes durch eine Sonnenhöhe allgemeingültig auszusprechen. Als einen solchen Zeitpunkt ordnete das Gesetz z. B. die „Schafthöhe der Sonne“ an; diese liegt vor, wenn am Nachmittag

„der Unterrand der Sonne die Spitze des in neun Fuß Entfernung vom Beobachter ausgestellten Speeres zu berühren scheint“.

Ausdrückliche gesetzliche Voraussetzung ist, daß es sich um den eigenen Speer des Beobachters handelt und daß dieser den Speer so ausgestellt hat, daß er noch bequem mit der Schafthand bis zur Tülle der eisernen Speerspitze reichen kann, d. h., daß unter allen Umständen ein gleicher Sehwinkel gesichert wird.

Die Länge des Speers steht in einem festen Erfahrungsverhältnis zur Körpergröße seines Eigners. Der Sehwinkel „Schafthöhe“ wird also durch Standebene und Handgriff gleichermaßen gewährleistet.

Mit wachsender Beobachtungshöhe (höherem Standort) steht die Sonnenscheibe höher über der Kimm. Würde die Sonnenhöhe von der Kimm als dem sichtbaren Himmelsrande gemessen, so ergäbe sich bei Beobachtung von Berghöhe aus eine andere und zwar spätere Zeit als bei Beobachtung vom Strande aus.

Die gesetzliche Regel, die einen gleichen Zeitwert für alle Beobachtungshöhen (ob am Strande oder vom Berge aus) will, schaltet den Himmelsrand aus der Höhenbestimmung aus und verlangt als Bezugsebene ausdrücklich die Augesebene selbst (die Waagrechte der Augeshöhe), unabhängig von der Standhöhe und vom Himmelsrand, d. h. den sog. scheinbaren Horizont.

Die Nachrechnung ergibt für den Zeitpunkt „Schafthöhe der Sonne“ einen Winkel von etwa 10 Grad.

4. Eine Polhöhenbestimmung aus der Rückenlage.

Um das Jahr 1150 gelangte ein isländischer Abt Nikolaus auf einer Pilgerreise an den Jordan. An der Stelle, wo Christus getauft sein sollte, stellt Nikolaus auf gut isländisch zunächst fest, daß der Jordan hier „von Nordost nach Südwest“ fließt und wie hoch hier der Leitstern steht:

„Wenn man sich draußen am Jordan offen auf flaches Feld legt, setzt das Knie auf und die Faust darauf und hebt den Daumen senkrecht von der Faust empor, so ist der Leitstern darüber zu sehen, so hoch, nicht höher.“

Die Faust mit dem aufgerichteten Daumen ist wieder das altgermanische Maß der Schafthand. Unter dem Leitstern ist, wie wir im Abschnitt über den Gestirnten Himmel noch feststellen werden, der Stern 32 im Kopf der „Giraffe“ zu verstehen, dessen Beobachtung dem Isländer von der Heimat her vertraut sein mußte; unser Polarstern stand damals noch weit vom {502} Drehpunkt ab. Dem Isländer ist der Vergleich der Polhöhe am Ziel seiner Reise mit der an seinem Wohnort in Nordisland wichtig gewesen.

Auch die Beobachtung aus der Rückenlage ist heimisches Verfahren, zweckmäßig, weil der Drehpunkt für Nordisland nur 24 Grad vom Scheitelpunkt absteht. Unzweckmäßig dagegen erscheint die Rückenlage am Jordan, weil der Leitstern dort nur 32 Grad über dem Himmelsrand stand. Die Anwendung des isländischen Verfahrens am Jordan bezweckt vielmehr nur die Ausschaltung der Überhöhungen des Himmelsrandes in dem gebirgigen Jordanlande, die Herstellung eines künstlichen, von der Augeshöhe unabhängigen, scheinbaren Horizontes (der waagrechten Augesebene), der auch in der Schafthöhenbestimmung regelhaft und gesetzlich gefordert war.

Die Nachprüfung des volkstümlichen Verfahrens ergibt den für die Beobachtungsbreite zutreffenden Winkel von etwa 32 Grad.

5. Sonnenstand als Jahresmarke.

(Vgl. Abb. 2.)

Im Jahre 930 wurde auf Island das Sonnenjahr als ausschließliche Zeitrechnung eingeführt. Als ersten Sommertag bezeichnete man den Tag, an dem die Sonne im Frühling in ONO, der sommerlichen Aufsteh-Eyktmarke (rismál), aufging. Der erste Wintertag sollte sein, wenn die Sonne im Herbst in der Arbeitsschluß-Eyktmarke (eyktarstaðr) unterging. Die Isländer wollten ihr Jahr aber außerdem noch mit ganzen Wochen rechnen und vergaßen (in der Unruhe der Besiedlungszeit) den 365. Tag, obgleich dessen Kenntnis schon 400 Jahre früher bei den Norwegern bezeugt ist. Sie merkten auch bald selbst, daß der Sonnengang am gesetzlichen ersten Sommertage nicht mehr richtig eintraf, und es war Thorstein Surt, der den Isländern die nach ihm benannte Einschaltung einer Woche etwa alle sieben Jahre empfahl, um dann aufs neue zu prüfen, wie das Jahr mit dem Sonnengange in Einklang gebracht werden könne.

Es ist nicht bekannt, auf welche Weise man den „Sonnengang“ bestimmt hat; das Verfahren, das Jahr von einem Sonnenstande aus zu beginnen, diesen also alljährlich sittegemäß zu beobachten, führt auf ein altes norwegisches Vorbild zurück, (vgl. den Abschnitt „Zeitrechnung“.)

6. Ortsbestimmung durch den Sonnenstand.
Die Lage Vinlands.

(Vgl. Abb. 6.)

Im Jahre 986 hatte der Norweger Bjarni Herjulfsson als erster Europäer das amerikanische Festland gesichtet. Den neuen Erdteil betrat zuerst Leif Eiriksson im Jahre 1000. Den südlichsten von ihm erreichten Küstenstrich, der nach den dort aufgefundenen Rebstöcken Vinland genannt wurde, hat Leif durch eine himmelskundliche Nachricht gekennzeichnet. Er berichtet: {503}

  1. daß der dort verbrachte Winter ganz frostlos gewesen sei;
  2. daß die Tage und Nächte dort einander an Länge mehr gleich gewesen seien als auf Grönland;
  3. daß am kürzesten Tage die Sonne dort Eyktstätt und Dagmalstätt hatte.

Die beiden letzteren Eyktmarken kennen wir bereits als Westsüdwest- und Ostsüdostpunkt. Leif vergleicht die Himmelserscheinungen des neuen Landes mit denen in der Heimat. Auf Erichs Gehöft Brattahlid, der väterlichen Siedlung in Südgrönland (NBr. 61°), ging die Sonne am kürzesten Tage in der Richtung S 34°.7 W unter, das sind rund 33 Grade südlich vom Westsüdwestpunkt, der Eyktstätt.

Je südlicher wir gelangen, um so nördlicher geht am kürzesten Tage die Sonne unter, um so näher liegt an diesem Tage der Sonnenuntergang an der Eyktstätt, erreicht diese aber selbst am Äquator nicht ganz. Auf dem Himmelsrand von Cuba (NBr. 21°) beträgt der Abstand noch 2°.7, auf dem von Georgia (NBr. 31°) ungefähr 5°. Die Landschilderung Leifs in der Saga läßt die Annahme nicht zu, daß er südlicher als Florida gelangt sei; an dieser Küste aber hatte die Sonne am kürzesten Tag doch nahezu Eykt- und Dagmalstätt. Der Abstand betrug in Südgrönland 33°, in Vinland (Florida) 3 bis 4°, die gewiß beobachtet, wenn auch im Bericht, der erst nach drei Jahrhunderten mündlicher Überlieferung ausgezeichnet wurde, nicht mehr zum Ausdruck gelangt sind.

Daß dieses astronomische Ortsbestimmungsverfahren germanischen Ursprungs und nicht aus dem Süden entlehnt ist (wie noch Frithjof Nansen behauptete), geht daraus hervor, daß es die wegen der flacheren Lage der Sonnenbahn breitere Streuung der Auf- und Untergangsorte der Sonne nutzt, die nur den nördlicheren Breiten angehört. Im Mittelmeergebiet bleiben die Auf- und Untergangsörter der Sonne dicht zusammen, so daß die Beobachtung und Messung zum Zwecke der Ortsbestimmung erschwert ist. Das Verfahren bietet in den germanischen Meeren und Gebieten eine um das fünffache verbesserte Beobachtungsmöglichkeit. Das nordische Verfahren wird im südlichen Altertum nirgends erwähnt; es ist aus der seemännischen Erfahrung des Nordens selbständig erwachsen und ihm eigentümlich.

7. Eine Bauernregel zur Voraussage von Neu- und Vollmond durch die Handspanne.

Vorbemerkung. Überquert der Mond die Richtung Erde–Sonne, so verschwindet er meist in ihrem Glanze und kann nicht gesehen werden. Er wird trotzdem von Zeit zu Zeit in dieser Stellung sichtbar, wenn sein Lauf ihn gerade vor der Sonne vorbeiführt, so daß diese durch seinen Leib verfinstert wird. Unregelmäßig ist das Erscheinen der ersten zarten Sichel nach dem Vorübergange des Mondes. In südlichen Breiten wurde der Monat mit dem Neulicht begonnen, dessen erste Sicht ausgerufen wurde. In den germanischen Breiten schwankt das Erscheinen der Neusichel selbst bei klarem Himmel doch zwischen ein bis drei Tagen; Grund genug, den Monatsbeginn auf andere Weise zu bestimmen.

Dem großen germanischen Heerkönige Ariovist, dem Gegner Cäsars, rieten die dem Heere folgenden Hausmütter, die Schlacht nicht vor dem Neumond zu beginnen [6]. Da es sich um eine Entscheidung von großer Be-{504}deutung handelte, müssen diese Hausmütter auch in der Lage gewesen sein, dem Ariovist den Neumondstag anzusagen, falls dies ihm selbst nicht möglich gewesen sein sollte. Bei bedecktem Himmel konnte dies nur durch Berechnung geschehen. Wenn 150 Jahre später von Tacitus berichtet wird, daß die Germanen an gewissen Tagen, nämlich bei Neu- oder Vollmond, zusammenkommen, so setzt er also richtig hinzu, daß sie die Tageszahl berechnen [7]. Wir werden im Abschnitt über die germanische Zeitrechnung noch durch Zeugnisse beweisen, daß alle germanische Mondrechnung weder vom Neulicht, noch vom Neumond, sondern allgemein vom Vollmond ausging.

Eine schwedische volkstümliche Regel, überliefert erst im 17. Jahrhundert, die aber dem kirchlichen Brauche ebenso fernliegt wie dem Primstab, sagt: Alle Monderscheinungen werden durch den Vollmond bestimmt. Vollmond ist, wenn der Mond mitten im Nachtring steht. Nachtring nennen sie den Schlagschatten der Erde, der bei Sonnenuntergang am östlichen Himmelsrande, bei Sonnenaufgang auf dem westlichen Himmelsrand einen breiten dunklen niedrigen Bogen auf dem der Sonne gegenüberliegenden Himmelsrande erscheinen läßt; der abends immer größer wird, bis er den Himmel ganz überdeckt und in die Nacht eingeht; der morgens immer kleiner wird, weil er vor dem ihm gegenüber heraufziehenden Tages- und Sonnenlichte weicht, bis es ganz Tag geworden ist. Da der Vollmond dann eintritt, wenn der Mond der Sonne gerade gegenübersteht (was durchschnittlich alle 29 bis 30 Tage erfolgt), so hat die Bauernregel recht, wenn sie sagt: Vollmond ist dann, wenn der Mond mitten im Nachtring steht.

Zur Vorausbestimmung von Neu- oder Vollmond bedienen sich die Bauern der kurzen Handspanne zwischen der Spitze des Daumens und des Zeigefingers bei ausgestrecktem Arm, die etwa 13 Grad am Himmel ausmißt. In sehr früher, noch urgermanischer Zeit, bei allen west- und nordgermanischen Stämmen nachweisbar, verglich man den Mond mit einem Hahne, der seinen Wedel, die Neu- und Altsichel, zur einen Monatshälfte auf die Ostseite, zur anderen Monatshälfte auf die Westseite der Sonne zu werfen schien. Die Bezeichnung ging also vom Vollmond aus; noch heute sagt man in Süddeutschland „es wädelt“, wenn es Vollmond wird; man spricht vom bösen Wedel und meint den abnehmenden Mond.

Von diesem Bilde eines Hahnes ist die Bezeichnung „Hahnenschritt“, die im gleichen Umkreis der genannten germanischen Stämme bezeugt ist, für die Strecke genommen, die der Mond auf seiner wahren Bahn nächtlich sichtbar zwischen den Sternen ostwärts zurücklegt. Diese wahre Ostbewegung (bei gleichzeitiger scheinbarer Westbewegung, dem Spiegelbild der Erddrehung) ist nachts an den Sternen von Stunde zu Stunde deutlich zu verfolgen. Zum selben Sterne kehrt der Mond (wenn auch nicht in gleicher Gestalt) nach ungefähr 27,3 Nächten (abgerundet auf 27 oder 28) zurück. Dies ist die Vollendung des wahren Mondumlaufs, von dem das später noch zu besprechende Dreizehnmonatsjahr berechnet wird. Der Gestaltenumlauf (von Phase zu Phase) ist erst 2½ Tage später beendet, weil der Mond, um dieselbe (von {505} der Beleuchtung durch die Sönne abhängige) Gestalt wieder zu erlangen, die inzwischen gleichfalls ostwärts vorgeschrittene Sonne noch wiedereinholen muß.

Von Nacht zu Nacht legt der Mond also im wahren Umlauf (360:27) = rund 13 volle Grad zurück. Diese Strecke entspricht der Kurzspanne und trägt mit ihr zugleich den Namen „Hahnenschritt“, weil es der alte Himmelshahn, der Mond, ist, der mit diesen 27 oder 28 Schritten seinen vollen Umlauf zurücklegt. Durch Übung erwirbt man sich leicht ein ziemlich genaues Maß.

Die schwedischen Bauern messen nun bei zunehmendem Mond den Abstand zwischen Sonne und östlich von ihr stehendem Mond (bei Tage) mit dieser Handspanne und stellen fest, wieviel „Spann“ der zunehmende Mond von der Sonne als seiner Neumondstellung entfernt ist, d. h. wieviel Tage seit Neumond verflossen sind. Bei Sonnenuntergang zeigt der Abstand zwischen Mond und Nachtring an, wieviel Tage noch bis Vollmond ausstehen. Vollmond selbst ist, wenn, wie erwähnt, der Mond mitten im Nachtring steht. Bei abnehmendem Monde, d. h. wenn der Mond westlich von der Sonne steht und auf sie zuläuft, zeigt die Zahl der Spann zwischen Mond und Sonne (also vormittags) an, wieviel Tage es noch bis zum Neumond sind, die Zahl der Spann (vor Sonnenaufgang) zwischen Nachtring und Mond, wieviel Tage seit Vollmond verflossen sind.

Diese Handspannenregel kann nur bei Tage angewandt werden, da nachts Sonne und Nachtring fehlen. In der Nacht, bei Sternsicht, erlaubt die Spanne, die Zahl der seit einer bestimmten Sternstellung des Mondes vergangenen Tage unmittelbar abzulesen.

Das Hahnenschrittmaß ist mit diesem Namen bei den germanischen Stämmen altbekannt. Der „Wedel“ bezeichnet den Vollmond bei den Nord- wie bei den Südgermanen. Die Zahl 27 und 28 der Hahnenschritte wird uns als Urmaß der wahren Mondbewegung, d. i. als ein Himmelsmaß noch ferner begegnen.

8. Beobachtungen in der Polarnacht.

(Vgl. Abb. 7.)

Um 550 berichten einige Norweger aus dem Lofot dem griechischen Geschichtsschreiber Prokop [8] auf sein Befragen: daß man in ihrer Heimat während der Oberläufigkeit der Sonne, d. h. in der Zeit der Mitternachtssonne die Zahl der Tage danach feststelle, wie oft die Sonne den Ort ihres ersten Aufgangs überquere. Dieser Aufgang findet alljährlich nach der Polarnacht mittags im Südpunkt statt. Es ist also, da die Berichterstatter als besonders glaubwürdig bezeichnet werden, auch als sicher anzunehmen, daß diese Beobachtung durch den gleichbleibenden Beobachtungsort und eine Landmarke gesichert war.

Die Zählung der Tage in der 40tägigen Polarnacht ist nach dem gleichen Berichte so vor sich gegangen, daß die Länge der Tage durch Beobachtung aus den Mond- und Sternüberquerungen jenes Südpunktes gefolgert wird.

{506} Der erste Aufgang der Sonne in diesem Südpunkt wird sittegemäß durch besondere Beobachter von einer Berghöhe „irgendwie“ vorausbestimmt. Diese melden, daß die Sonne in fünf Tagen wieder sichtbar sein werde. Welcher Art diese Beobachtungen waren, ist aus dem „irgendwie“ des Berichts nicht zu entnehmen; wir dürfen aber an die Dämmerungsbeobachtungen (s. unten) des Stern-Oddi auf Island, die nachweislich auf norwegischer Übung beruhen, erinnern. Der Bericht sagt auch ausdrücklich, daß jene fünf Tage „noch in der Finsternis (Dämmerung)“ als größtes Fest gefeiert würden. Es muß sich also um Dämmerungsbeobachtungen gehandelt haben.

Da übrigens in der 40tägigen Unsichtbarkeit der Sonne der Mond 1½ Umläufe vollzog, so kann den Nordleuten, die die Wiederkehr der Sonne berichtsgemäß nach den Mondumläufen und durch deren Tageszählung berechneten, die Zahl der Tage nicht unbekannt geblieben sein, die der Mond selbst zu seinen eigenen Umläufen gebrauchte, und zwar weder die 27 bis 28 Tage seines wahren Umlaufs zwischen den Sternen, noch die 29 bis 30 Tage seines dauernden Gestaltwandels.

(Über das nordische Sonnenjahr siehe Zeitrechnung.)

9. Die Oberläufigkeit des Mondes.

Vorbemerkung. Während vom 66. Breitengrad ab die Sonne um die Wenden alljährlich ober- und unterläufig wird, zeigt der Mond (dessen Abweichung vom Weltgleicher zwischen 18,5 und 28,5 Grad in 18,6 Jahren schwankt) entsprechende Erscheinungen alle 19 Jahre, aber schon vom 62. Breitengrad ab und zwar, unabhängig von seiner Lichtgestalt, in jedem seiner wahren 27,3tägigen Umläufe. Nördlich des Lofot dauern Ober- und Unterläufigkeit in den Jahren der größten Abweichung durchschnittlich je 7 Tage in jedem Umlauf, zwischen denen etwa 14 Tage liegen, in denen das Gestirn zwischen dem Nord- und Südpunkt des Himmelsrandes auf- und untergeht. Mit dem Rückgang der Abweichung gehen auch diese Erscheinungen einer dauernden Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit zurück, um für jede Breite nördlich des 61. Breitengrades alle 19 Jahre erstmalig wieder aufzutauchen.

Von diesen Erscheinungen berichtet der griechische Geschichtsschreiber Diodor [9]: Daß in dem Lande der Hyperboreer der Gott Apollon alle Jahre die Erde betrete und ununterbrochen einen Rundreigen, von der Frühlingsgleiche bis zum Frühaufgang der Plejaden, tanze, die Zither spielend und sich an seinen Glückstagen ergötzend. In dieser griechischen Sage tritt der Gott selbst für das ihm in Griechenland heilige Gestirn ein. Den Griechen war die 19jährige Schaltfolge des Atheners Meton bekannt; sie war auf den 19jährigen Knotenumlauf des Mondes aufgebaut. Was aber den Griechen und den anderen Mittelmeervölkern nicht erfahrbar sein, von ihnen auch nicht errechnet werden konnte, war die Erscheinung der Oberläufigkeit des Mondes, des dauernden Kreisens des Mondes über dem Himmelsrand.

Von den Hellen Nächten und der Mitternachtssonne haben die Griechen Homers bereits gewußt [10]. Auch die Kunde von der Mondoberläufigkeit wird ihnen auf alten Wegen zugegangen sein, wenn sie diese alte dorische Sage nicht schon aus ihren nördlicheren Sitzen in den Süden mitgebracht hatten. {507} Aber nur ein Himmelskundiger von hohem Range, dem auch das sogenannte Große Jahr Metons von 19 Jahren bekannt war, konnte zwischen diesem und der allneunzehnjährigen Erscheinung der Oberläufigkeit des Mondes im hohen Norden den Zusammenhang erkennen und behaupten.

Ein solcher bedeutender Astronom war der Grieche Pytheas, der um 330 v. u. Z. Norwegen besuchte, um die Oberläufigkeit der Sonne mit eigenen Augen zu schauen. Seine Absichten waren rein wissenschaftlicher Art und die Gespräche, die er berichtsgemäß zufolge mit den Norwegern in der Gegend von Drontheim gehalten hat, werden nicht nur die Sonne, sondern auch den Mond und dessen Erscheinungen betroffen haben. Es ist wahrscheinlich, daß Pytheas selbst es war, der in seinem leider verlorenen Reiseberichte „Über den Ocean“ eine Nachricht von der Oberläufigkeit des Mondes in 19jährlichem Wechsel vom Norden nach Griechenland gebracht hat, wo sie anscheinend schärfstem Unglauben begegnete.

Hier ist von Bedeutung, daß diese Nachricht nur einer Beobachtung im germanischen Norden ihr Dasein verdanken kann. Da aber Pytheas selbst nur einige Sommerwochen bei den Thröndern verweilt hat, kann er die Fristen jener Erscheinungen nicht aus eigener Erfahrung gewonnen, er muß sie vielmehr von den Nordleuten selbst gehört haben, auf deren himmelskundliche Kenntnisse er sich, wie ein erhaltenes Bruchstück seines Buches zeigt, auch in anderen Fällen verlassen hat [11].

Die Nachricht hat Diodor wahrscheinlich, seiner Art gemäß, einem angesehenen Schriftsteller entnommen, der nur Pytheas gewesen sein kann. Wir dürfen schließen, daß der 19jährliche Umlauf der Mondoberläufigkeit zum Wissensstande der Norweger gehörte, die Pytheas befragt hat.

10. Oddi Helgason.

Im Ausgang des 10. Jahrhunderts, in noch heidnischer Zeit, lebte auf dem Gehöfte Muli in Nordisland Oddi Helgason als ein Arbeitsmann des Bauern Thord. Das Rauchtal, über dessen Nordausgang das Gehöft auf einem Bergvorsprung lag, war um 900 von einer norwegischen Bauernsippe aus Hardanger besiedelt worden; Thord und Oddi waren wahrscheinlich Vettern. Dadurch erklärte es sich, daß Oddi, obgleich wenig arbeitstüchtig und – aus kinderreicher Ehe stammend – ohne Vermögen, andererseits als höchst zuverlässig, wahrheitsliebend, zeitrechnungskundig wie kein anderer zu seiner Zeit und auch sonst als sehr vielseitig geschildert, bei Thord gut gehalten wird. Hierüber berichtet eine kleine alte Saga „Stern-Oddis Traum“ [12]. Aus ihr erfahren wir diesen Beinamen, auch daß er auf der Flachinsel (Flatey) an der Nordküste Islands (NBr. 66° 10′) den Fischereibetrieb des Bauern Thord besorgte, und daß er in klaren Nächten die Sterne gewohnheitsmäßig beobachtete.

Von diesem thorgläubigen Isländer sind in einer kirchlichen Zeitrechnungsschrift des 12. Jahrhunderts einige himmelskundliche Nachrichten unter dem Namen „Oddis Zählung (Odda tala)“ erhalten.

{508} Die erste der drei Überlieferungen (O I) setzt die neue kirchliche Zeitrechnung von 365¼ Tagen in Beziehung zum isländisch-norwegischen Jahre und erläutert, wie sich die wirklichen, dem Norden geläufigen und auch von Oddi richtig beobachteten wahren Jahrpunkte (Wenden und Gleichen) in dem neuen, julianischen Schaltkreis von vier Jahren verschieben. Die Erörterung ist scharfsinnig und richtig gedacht. Die Frage selbst ist ohne fremdes Vorbild gestellt, weil sie nur im Zusammenprall dieser beiden Zeitrechnungen entstehen konnte und Sinn hatte.

Die zweite Überlieferung Oddis (O II) betrifft das Steigen und Fallen der Sonnenmittagshöhen; die dritte Überlieferung (O III) die Nord- und Südwanderung der Dämmerungslichtbogen auf dem Himmelsrande.

Es fällt auf, daß Sternbeobachtungen, von denen Oddi seinen Namen trug, nicht erhalten sind; auch vom Monde hören wir nichts. Die drei erhaltenen Überlieferungen beziehen sich auf die Bewegung der Sonne; alle drei Überlieferungsreihen suchen das Naturgesetz.

Die Mittagshöhen der Sonne.

Um 1000 stand die Sonne am Mittag des kürzesten Tages (Wintersonnenwende), von der Flachinsel gesehen, nur 0° 35′ über dem Südpunkt des freien Himmelsrandes; am Mittag des längsten Tages (Sommersonnenwende) 47° 21′. Diese Steigung hat Oddi in eine arithmetische Zahlenreihe gebracht; er mißt ohne Gradnetz mit dem Naturmaße des scheinbaren Sonnendurchmessers und Halbmessers; indem Oddi jeder der 26 Wochen zwischen den Wenden eine um 1 scheinbaren Halbmesser (ein halbes Rad der Sonne) gegen den Betrag der Vorwoche vermehrte bzw. verminderte Steigung der Sonnenmittagshöhe beilegt, stellt er die Gesamtsteigung auf 182 Halbrad fest. Die Überlieferung lautet:

„Der Sonne Gang wächst zur Sicht ½ Rad der Sonne in der 1. Woche nach Sonnwend; in der 2. Woche 1 Rad; in der 3. Woche 1½; in der 4. 2 Rad; in der 5. 2½; in der 6. 3; in der 7. 3½; in der 8. 4; in der 9. 4½; in der 10. 5; in der 11. 5½; in der 12. 6; in der 13. 6½; in der 14. ebenfalls 6½ Rad. Da wächst am meisten in jenen beiden Wochen der Sonne Gang, weil da die Mitte zwischen den Sonnwenden ist (und die Wochen begegnen sich vier Nächte vor Gregoriustag – d i. 16. März a. St.) –. In der 15. Woche wächst der Sonne Gang um 6 Rad, in der 16. um 5½; in der 17. 5; in der 18. 4½; in der 19. 4; in der 20. 3½; in der 21. 3; in der 22. 2½; in der 23. 2; in der 24. 1½; in der 25. 1; in der 26. ½ Rad. Da ist er zu den Sonnwenden im Sommer gekommen und in gleichem Maße, wie er eben nach seinem Steigen gezählt ist, schwindet der Sonne Gang. (Im Herbst ist die Mitte zwischen den Wenden am Kreuztag – d.i. 14. September a. St.).“

Den Vergleich mit der Wirklichkeit um 1000 bietet das Schaubild (Abb. 8), das eine gute Annäherung zeigt. Der Grund für den Mangel einer vollen {509} Übereinstimmung liegt wahrscheinlich nicht in Fehlern der Beobachtung, sondern in der Theorie Oddis, der eine vollkommene Gleichmäßigkeit der Sonnenbewegung (wie bei den Griechen noch Eudoxos) annehmen zu müssen glaubte.

Trotz dieser Mängel, die weniger dem Beobachter als dem Denker Oddi zur Last zu schreiben sind, ergibt sich für die Annahme der Höchstabweichung ein Fehler von 0,7 Grad; für den scheinbaren Sonnenhalbmesser ein mittlerer Wert von 15,5 Bogenminuten, der dem Wirklichen von 15,8 im Sommer und 16 im Winter nahekommt. Das gleichzeitige europäische Mittelalter (Beda, Honorius) berechnete den scheinbaren Durchmesser der Sonne um das dreifache zu groß (1° 40′).

Die auf die Heiligentage bezugnehmenden Zusätze in „Oddis Zählung“ gehören nicht ihm, sondern der kirchlichen Niederschrift der mündlichen Überlieferung an.

Die Wanderung der Dämmerungsrichtungen.

Vorbemerkung. Befindet sich die Sonne in einer bestimmten Tiefe unter dem Himmelsrand, so sendet sie einen ersten, kaum merkbaren Lichtbogen von bestimmter Größe über den Himmelsrand hinauf, den wir abends als das Ende, morgens als den Anfang der Dämmerung bezeichnen. Die Mitte des Lichtbogens steht senkrecht über dem Standort der Sonne, bei gleicher Sonnentiefe mit gleicher Größe. Mit der Nordwanderung der täglichen Sonnenbahnen zum Sommer wandern auch die Lichtbogen nordwärts, zum Winter rückläufig.

Oddi Helgason hat auf der Flachinsel beobachtet, wann die gleichen Dämmerungsgrößen in den 16 Himmelsrichtungen eintreffen; wieviel Tage sie also von einer dieser Himmelsrichtungen zur nächsten gebrauchen. Er hat die Beschleunigung zum Sommer, die Verlangsamung zum Winter hin festgestellt. Oddi bezeichnet die bestimmte Dämmerungsgröße als Tagaufgang. Der Bericht (O III) lautet:

„Oddi (zählte so, daß Andreastag und 5. Jultag gleich lang wären. Er) ließ da den Tag aufkommen in OSO, niedergehen in WSW. (Vom 5. Jultag) ließ er 43 Nächte bis zum Tagaufgang in O bzw. Taguntergang in W zählen (das ist am Scholastikatag). Dann sind 25 Nächte bis zum Tagaufgang (Taguntergang) in ONO (WSW), (das ist 5 Nächte vor Gregoriustag); dann vergehen 18 Nächte bis zum Tagaufgang in NO und Taguntergang in NW (das ist am Marientag). Dann vergehen 10 Nächte bis zum Tagaufgang in NNO und Niedergang in NNW. Dann vergehen 5 Nächte bis dahin, wann der Tag nicht [mehr] niedergeht (das ist 5 Nächte vor Tiburtius und Valerianus). Dann vergehen 134 Nächte, bis der Tag nahezu niedergeht (das ist 6 Nächte nach dem Jüngeren Marientag); und es geschieht auf solche Weise wo die Nacht sich längt, wie es bei den sich verkürzenden gezählt ist; und zwar 1 aett in 5 Nächten, das 2. in 10, das 3. in 18, das 4. in 25, das 5. aett in 43 Nächten (da ist es zum Andreastag gekommen).“

{510} Die (hier in Klammer gesetzte) julianische Datierung setzt für ihre Zeit den Beginn des Jahres in die Wintersonnenwende, zwischen Andreastag und 5. Jultag, d. i. 30.XI. und 29.XII. a. St., also auf Mitternacht, 14./15.XII. a. St. In der Mitte der 134 hellen Nächte liegt auf dem 15.VI. die Sommersonnenwende. Die Nachrechnung der Angaben ergibt, daß den Dämmerungsrichtungen eine Sonnentiefe von etwa 14 Grad für die NBr. 66° 10′, d. i. der Flachinsel und Oddis Beobachtungsort, zugehört.

Es handelt sich nicht um Helligkeitsmessungen und Sternsichtbarkeiten, sondern um die Bestimmung des Mittelpunktes jenes sehr kleinen Lichtbogens, wobei die Bestimmung der Richtung nur Wert hat, wenn sie gleichgroße Lichtbögen betrifft. Die Ergebnisse Oddis sind so genau, daß ihnen ein Zeitfehler von nur ungefähr ±5 Minuten entspricht. Die himmelskundliche Genauigkeit seines Richtungsbildes, vor allem der Südnordachse (des Meridians), ist zugleich erwiesen.

Während bei der ersten Zahlenreihe, in der Bestimmung der Mittagshöhen der Sonne im Laufe des Jahres, das Ergebnis durch die Einwirkung einer Theorie beeinträchtigt wurde, hält sich die Bestimmung der Beschleunigung und Verlangsamung der Dämmerungswanderung im Rahmen der Beobachtung. Alle drei Überlieferungen der Odda tala dienen der Ermittelung des Naturgesetzes.

In allen drei Überlieferungen handelt es sich um ein Jahr von 365 Tagen, das nur in der ersten Reihe mit dem neuen julianischen Jahre von 365¼ Tagen in Vergleich gesetzt wird. Oddi beginnt seine Zählungen und Beobachtungen stets mit der Wintersonnwende, die er einheitlich in die Mitternacht setzt, also im Nordpunkt, d. i. dem tiefsten Punkte der Sonnenbahn am kürzesten Tage vor sich gehen läßt. Diese lag zu Oddis Zeit (+1000) auf dem 15. Dezember a. St. und ging erst um 1100 auf den 14.XII. über.

Inzwischen rechnete das abendländische Mittelalter noch lange mit den seit Cäsar immer fehlerhafter gewordenen julianischen Jahrpunkten. Richtigere Bestimmungen treten innerhalb der Kirche erst im 11. Jahrhundert vereinzelt aus und zwar in den beiden bekannten Fällen (Wilhelm von Hirschau, Hermann der Lahme) unter griechisch-arabischem Einflüsse. Von letzterem bleibt Island noch bis 1173 unberührt.

Oddi Helgason steht im Ausgang einer vorkirchlichen Himmelskunde; der Genauigkeitsgrad seiner Beobachtung erscheint noch in der bruchstückhaften Überlieferung bewunderungswürdig.